Schau mal! Oversharing im Social Web und die Folgen

Schau mal! Oversharing im Social Web und die Folgen …

Du sitzt in der stickigen Bahn, dicht gedrängt zwischen anderen Menschen. Die Luft drückt, die Fenster sind geschlossen. Neben dir hat es sich jemand mit stechendem Schweißgeruch bequem gemacht. Um dich irgendwie abzulenken, fummelst du dein Smartphone aus der Tasche, schaust bei Facebook vorbei – und wirst prompt von einer Flut leuchtender Bilder erschlagen: Tauchgang vor der Küste von Bali, Grillparty in der Abendsonne am Ostseestrand, das azurblaue Panorama der Alpen. Schönen Dank auch.

Sender und Empfänger

Soziale Netzwerke sind nichts Neues mehr. Wir beherrschen doch alle den Umgang mit Facebook & Co. Wirklich? Es gibt Argumente, die dagegensprechen. Argumente, die wir anderen und nicht einmal uns selbst gegenüber gern eingestehen.

Was geht in dir vor, wenn du wie im eingangs beschriebenen Beispiel die traumhaften Fotos deiner Freunde siehst? Ich freu‘ mich, ist doch klar! Und in den meisten Fällen stimmt das wohl. Was aber, wenn diese Bilder sich ständig wiederholen? Wenn du täglich einen konstanten Strom von fantastischen Urlaubsmomenten in deiner Timeline siehst, während du wie jeden Morgen ins stickige Büro fährst?

Das kleine, gelbe Monster

Den meisten von uns würde wohl früher oder später das kleine Neidmonster auf der Schulter sitzen. Es würde uns Gedanken ins Ohr flüstern, die wir bei allem Gönnen-Können nicht beiseiteschieben, etwa:

So ein Angeber! Dem geht’s doch nur um Klicks.

Die hat ein Leben – den ganzen Tag am Strand sitzen und nichts tun.

Meine Güte, irgendwann ist’s aber mal gut mit den ganzen Poser-Bildern.

Du merkst schon, diese Gedanken sind ziemlich negativ und ehrlich gesagt völlig normal. Denn hierbei handelt es sich um einen psychologischen Effekt, der durch das sogenannte Oversharing ausgelöst wird.

Was ist Oversharing?

Um welches soziale Netzwerk es sich auch handelt: Immer gibt es Sender und Empfänger. Beide stehen in Interaktion miteinander. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um einzelne Personen handeln. Sender können auch Unternehmen mit ihrem Account sein, beim Empfänger kann es sich um eine Gruppe ausgewählter Leute handeln.

Das Prinzip Sender-Empfänger ist jedoch immer gleich: Du sendest einen Post, einen Tweet oder ein Foto nach draußen. Was jedoch häufig nicht bedacht wird, ist die Wirkung auf die Empfänger. Denn die kann völlig anders sein, als von dir beabsichtigt. So mag es dir darum gehen, einen schönen Moment mit deinen Kontakten zu teilen. Du möchtest vielleicht, dass sich diese positive Atmosphäre – Sonne, Strand, Meer, Erholung – auf deine Freunde überträgt.

Der Schnappschuss kann jedoch nach hinten losgehen. Nämlich dann, wenn deine Freunde Bilder wie diese satthaben. Weil sie im Großraumbüro sitzen, die Klimaanlage ausgefallen ist und sie sich eine 5-Minuten-Terrine reindrücken, während du einen Foodporn vom Hotelbuffet hochlädst. Weil sie eine Urlaubssperre bekommen haben, während du mit dem Mofa durch sizilianische Gassen knatterst. Weil sie ganz einfach einen verzerrten Eindruck vom Leben ihrer Mitmenschen bekommen.

Nur die Schokoladenseiten

Das Phänomen Oversharing zeigt sich nicht nur in der Urlaubszeit. Es kann jeden treffen, der einen Post veröffentlicht, in dem irgendetwas Begehrliches enthalten ist. Fotos einer neuen Wohnung mit Garten etwa, was der um Wohnraum kämpfende Hamburger Kumpel zähneknirschend zur Kenntnis nimmt. Ein toller Abend mit Freunden, den der Einzelgänger sich seit Monaten verzweifelt wünscht. Oder der Klassiker unter den Protzereien schlechthin: die neue PS-starke Karre mit verchromten Felgen.

Befeuert wird dieser Eindruck der Angeberei noch durch entsprechende Texte:

So muss ein Auto klingen. Fahre jetzt erstmal schön ins Grüne.

oder

Endlich, meine Traumwohnung im angesagten Viertel! Der Balkon ist riiiiiiesig!!

Sicherlich kennst du auch einige Kandidaten in deiner Freundesliste, die durch solche Postings in gewohnter Regelmäßigkeit auffallen – und zwar negativ! Dabei ist die Frage müßig, ob es sich tatsächlich um Angeberei handelt oder nicht. Die meisten Sender dieser Botschaften haben keine (zumindest keine bewusste) Absicht, zu prahlen. Doch das Risiko einer solchen Fremdwahrnehmung ist aus den genannten Gründe vorhanden. Wie schnell Trolle & Co. einem das Online-Leben zur Hölle machen können, musste die Schauspielerin Leslie Jones vor Kurzem am eigenen Leib erfahren.

Die endlose Neidspirale

Du weißt nun, dass die Empfänger deiner Nachrichten in den Social Media diese anders aufnehmen können, als von dir beabsichtigt.

Sind denn alle Empfänger so drauf? Natürlich nicht. Schließlich gibt es keine Verpflichtung dazu, dem kleinen Neidmonster auf der eigenen Schulter zuzuhören. Das ist leichter gesagt als getan: Denn Neid kennt jeder, der ehrlich zu sich selbst ist.

Das zeigt auch eine Studie der Humboldt-Universität und der TU Darmstadt. So wurden die Emotionen von 600 Menschen bei der Nutzung ihres Facebook-Accounts analysiert. Das Ergebnis: Mehr als ein Drittel der Probanden hatte negative Gefühle wie Frustration. Kein Grund, sich dafür zu schämen, erklärt die Co-Autorin der Studie, Helena Wenninger:

„Angesichts der weltweiten Nutzung von Facebook und der Tatsache, dass Neid eine universelle Emotion ist, sind sehr viele Menschen von diesen Auswirkungen betroffen.“

Der leichte Zugang zu den Erfolgen anderer kann zu einer sozialen Vergleichssituation führen. Und wenn du gerade einen miesen Tag hattest, dein Kumpel sich aber einen bunten macht, dann kann dein subjektiver Vergleich ziemlich negativ ausfallen – schon ist die Neidspirale in Gang gesetzt.

Mit Verstand und Weitsicht durch Social Media

Sollst du deswegen jetzt damit aufhören, deine Erfolge und schönen Momente im Leben mit anderen in der Welt von Social Media zu teilen? Natürlich nicht. Allerdings musst du stets damit rechnen, dass Menschen deine Bilder sehen und neidisch werden könnten. Dass nicht nur Likes und Kommentare, die du dir vielleicht erhoffst, folgen, sondern auch ein patziger Spruch unter dem schönen Foto, den du überhaupt nicht erwartet hast.

Der Neid der anderen ist nicht dein Problem, richtig. Dennoch kann ich dir nur dazu raten, deine persönlichen Highlights sehr dezent und wohlüberlegt zu posten. Es gibt schließlich genügend Beispiele dafür, wie man es lieber nicht macht.

Ehrlichkeit und ihre Wirkung

Wissenschaftler der Harvard Business School kamen zu einem überraschenden Ergebnis, das ein neues Licht auf Oversharing wirft: So kann das Teilen von Informationen, die nachteilig sind, einen positiven Effekt auf die Empfänger haben.

Dies ermittelten sie anhand einer Studie. Die Teilnehmer sollten sich zwischen zwei Dating-Partnern entscheiden. Die einzigen Informationen über die beiden Personen erhielten sie aus deren Online-Profilen.

Innerhalb dieser Profile wurden intime Fragen gestellt, zum Beispiel, ob die Person schon einmal 100 Dollar gestohlen oder einem früheren Partner eine bestehende Geschlechtskrankheit verschwiegen hätte. Das erstaunliche Ergebnis: Über 80 Prozent der Teilnehmer entschieden sich für die Person, die offen alle Fragen beantwortet hatte anstatt für diejenige, die auf diese intimen Fragen keine Antwort gab.

Studienleiterin Leslie K. John war selbst überrascht:

„I thought this was a false positive at first. But we replicated it many, many times. I was shocked.“

(Ich dachte, die Resultate stellten fälschlicherweise einen Zusammenhang her. Doch wir haben das viele, viele Male wiederholt. Ich war geschockt.)

Der Effekt trat sogar dann auf, wenn die Teilnehmer nur teilweise die Fragen zu schlechtem Verhalten beantworteten.

Überkompensation und Offenheit

Einen Erklärungsansatz sehen die Wissenschaftler im Vertrauen, das durch diese Offenheit entsteht. In Hinblick auf die Neidreaktionen bei Social Media wirken diese Erkenntnisse dem Anschein nach widersprüchlich.

Doch welche Seiten zeigen Menschen in Online-Netzwerken? Wer teilt auf den Plattformen seine Schwächen, Fehler, Rückschläge, Ängste usw.? Wohl die allerwenigsten. Mit Filtern aufgepeppte Fotos kommen einfach besser an – glauben wir jedenfalls. Überkompensation nennen Psychologen diesen Versuch, negative Eigenschaften durch die Hervorhebung positiver Dinge zu „neutralisieren“.

Nicht alles machen, was auch möglich ist

Oversharing ist hierzulande und bei aller Offenheit ein wichtiges Thema, denn die deutsche Mentalität unterscheidet sich deutlich von der US-amerikanischen, aus der heraus die populären sozialen Netzwerke entstanden sind. Ständig fordert Facebook seine User dazu auf, Fotos zu teilen, Freundschaften öffentlich zu feiern etc. Die Deutschen sind jedoch tendenziell zurückhaltender, tragen einfach nicht so dick auf.

Lasse dich also nicht von den Aufforderungen in sozialen Netzen dazu drängen, Dinge zu veröffentlichen, die du eigentlich für dich behalten willst. Sei dir darüber hinaus bewusst, dass es eine Empfängerseite gibt, die jeden Tag mit vielen weiteren Postings bombardiert wird und deine Fotos/Videos/Texte in den falschen Hals kriegen könnte.

Das alles soll dich nicht von der Interaktion und dem damit verbundenen Spaß in den sozialen Netzwerken abhalten. Doch empfiehlt es sich, das Ganze mit Köpfchen anzugehen.

Diese Tipps bewahren dich vor Oversharing:

  • Frage dich vor jedem Upload: Warum lade ich das Bild/das Video/den Text hoch?
  • Poste nicht zu häufig (z. B. jeden Tag 20 Urlaubsbilder).
  • Achte auf Feedback, vor allem auf solches, das (unterschwelligen) Neid verkündet.
  • Denke an die Empfänger deiner Botschaft: Haben sie wirklich einen Nutzen von deinen Uploads oder könnten sie dir diese übelnehmen?
  • Untersuche die Postings der Nutzer, die dich am meisten nerven. Was führt dazu, dass sie dir negativ auffallen, und wie kannst du das vermeiden?
  • Zeige auch Interesse an anderen Postings. Like diese, freue dich mit den anderen.
  • Fake und übertreibe nicht. Und bitte keine falsche Bescheidenheit. Heuchelei wirkt noch schlimmer als offensichtliche Prahlerei. Authentizität ist der Leitstern, an dem du dich orientieren solltest – auch wenn der Begriff ein wenig überstrapaziert ist.
  • Ehrlichkeit zählt und kann, im richtigen Maße kommuniziert, Sympathien erzeugen.

Wenn du diese Tipps beherzigst, läufst du wesentlich weniger Gefahr, in die Oversharing-Falle zu rutschen und damit Freunden, Bekannten, Kunden und Kollegen auf den Geist zu gehen. Eine 100-prozentige Sicherheit dagegen wird es allerdings nie geben. Wer neidisch sein will, der wird es sein. Du kannst so jedoch die Wahrscheinlichkeit, als Angeber wahrgenommen zu werden, deutlich senken.

Soll ich das posten? Oversharing im Social Web verhindern – so geht's.TWEET

Fazit

Oversharing passiert schnell, denn das Hauptinteresse sozialer Netzwerke liegt darin, viele User zu reger Interaktion zu bewegen. Schließlich müssen Werbepartner überzeugt werden. Lasse dich jedoch nicht von den vermeintlich tollen Seiten blenden und entwickle eine vernünftige Einstellung zum Teilen deiner Inhalte. Dann werden sich deine Follower auch eher mit dir über deine persönlichen Highlights freuen können.

Artikelbild: Martin Mummel/GRVTY

Hand aufs Herz: Beim Lesen ist dir die eine oder andere Situation eingefallen, in der du selbst von vermeintlichen „Protz-Posts“ genervt warst. Wie wirst du in Zukunft damit umgehen? Und was lernst du für dein eigenes Verhalten daraus?
Schau mal! Oversharing im Social Web und die Folgen …
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Benjamin Brückner

Benjamin Brückner

Benjamin Brückner ist Journalist, Blogger und Gründer der Online-Plattform Freelance Start. Nach mehrjährigen Tätigkeiten in Hörfunk- und Fernsehredaktionen veröffentlichte er zwei Bücher und arbeitete unter anderem als Redakteur und Newsletter-Teamleiter bei Zielbar.

4 Reaktionen zu “Schau mal! Oversharing im Social Web und die Folgen …”

  1. Stefan Schütz
    Stefan Schütz

    Hallo Benjamin,

    ich habe zwei Thesen, warum hier bislang nicht kommentiert wurde:

    A) Die Leser fühlen sich ertappt oder sichten gerade noch Bildmaterial der letzten Sommerferien.
    B) Der hiesigen Zielgruppe würde Oversharing nie passieren – alles Kommunikationsprofis.

    Danke für diesen Beitrag und viele Grüße
    Stefan

    Antworten
    1. Benjamin Brückner
      Benjamin Brückner

      Hallo Stefan,

      beides ist gut möglich!

      Gern geschehen, danke für deinen Kommentar.

      Viele Grüße
      Benjamin

      Antworten
  2. Astrid Radtke

    Stellen wir uns doch die Frage anders herum. Was veranlasst Menschen solche Urlaubsfotos ständig(!) zu posten?
    Ich stelle fest, dass viele gerne fotografieren (ich übrigens auch) und diese Bilder gerne veröffentlichen unter einer bestimmten Thematik: Meine Rosen, Bäume, Sonnenuntergänge, Wolkenformationen etc. Diese Bilder regen zum Austausch an, weil man sich an ihnen freuen kann und sie unabhängig vom Ort sind.
    Urlaubsfotos – früher schon immer der Gesprächskiller bei Treffen mit Dia-Shows – ermöglichen keinen Dialog, weil der Betrachter nicht mitreden kann. Hier steht das „Ich“ im Vordergrund und ist eben wenig kommunikativ.
    Neid wird bei solchen Bildern einen geringen Faktor ausmachen, auch wenn sich einige Betrachter keinen Urlaub mehr leisten können, sondern eher Desinteresse. Denn selbst der Ort, von dem die Bilder kommen, ist selten der Ort, an dem er gern Urlaub machen würde.

    Antworten
    1. Benjamin Brückner
      Benjamin Brückner

      Hallo Astrid,

      ein interessanter Gedanke. Die von dir beschriebenen Motive würde ich der künstlerischen Fotografie zuschreiben. Sie sind Selbstzweck und die Subjekt-Objekt-Beziehung ist hier wesentlich schwächer ausgeprägt als bei Urlaubsfotos, die womöglich eine Botschaft transportieren sollen.

      Viele Grüße
      Benjamin

      Antworten

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