Digital Detox - Brauchen wir eine digitale Entgiftung

Digital Detox – brauchen wir eine digitale Entgiftung?

Der Trend zur natürlichen Entschlackung ist ungebrochen: Wir achten darauf, woher unser Essen kommt, lesen Ratgeber zur Schlafhygiene und Bio-Kosmetik. Schwer in Mode ist jetzt auch das sogenannte Souping. Früher sagte man dazu „Suppe essen“ – und ich bin noch nicht so alt! Wenn es um das körperliche Wohl geht, kann es gar nicht gesund genug sein.

Aber wie sieht es mit deinem Online-Verhalten aus? Ist das noch gesund oder brauchst du eine „digitale Entgiftung“?

Ein neuer Lifestyle

Firmen wie Privatpersonen haben erkannt: Die digitale Welt bietet nicht nur viel, sie verlangt auch viel ab. Zu viel. Noch nie waren wir einem so gigantischen Angebot von multimedialen Inhalten ausgesetzt. Und damit der Verführung, uns ständig ablenken zu lassen oder in einem digitalen Sumpf zu versinken. Jeder von uns verfügt über zahlreiche Accounts – seien es Mailclients oder Zugänge zu Musikportalen, Shopping-Seiten etc. Da kann man schnell den Überblick verlieren.

Daher bietet das Silicon Valley eine Lösung für ein selbst geschaffenes Problem: Digital Detox. Grund genug also, dieser Lösung skeptisch zu begegnen. Denn auch das ist primär ein Geschäft. Inzwischen haben sich Camps nach US-amerikanischem Vorbild auch in Deutschland entwickelt, die eine Art digitalen Rückzug anbieten. Das Ganze erinnert vom Aufbau an gehobene Wandertage. Laptop, Smartphone, sogar der iPod, bleiben zu Hause. Kommunikationsregeln werden aufgestellt, Sprechverbote erteilt. Anbieter verkaufen ein gezügeltes Leben ohne Technik (wenn auch nur für ein paar Stunden oder Tage) und manchmal auch ohne eigenen Willen. Verordnetes elektronisches Heilfasten also.

Digital Detox ist schwer in Mode. Selbst Hotels bieten ihren Gästen diesen Service an. Aber ist der auch effektiv? Hinter der digitalen Entgiftung steckt natürlich keine altruistische Absicht. Mitarbeiter sollen produktiver werden, und so verschonen die meisten Unternehmen ihre Angestellten nur aus einem Grund vorübergehend mit Technik: um sie nachfolgend wieder an genau dieselbe Technik anzuschließen. Matrix lässt grüßen. Oder um es mit den Worten von Morpheus zu sagen:

Dummerweise kann man niemandem erklären, was die Matrix ist. Du musst sie selbst erleben.

Genauso verhält es sich mit so etwas Abstraktem wie der Digitalisierung. Aber die ist uns ja im Gegensatz zur Matrix im Film bewusst! Wirklich? Hast du einen Überblick darüber, was Big Data mit dir macht? Soziophysiker Dirk Helbing jedenfalls nimmt kein Blatt vor den Mund:

Weitere Nebenwirkungen der digitalen Revolution sind Cyberkriminalität, Cyberkrieg und die negativen Seiten von Big Data: Die gigantischen Mengen an Information und persönlichen Daten, die Firmen wie Google, Apple, Amazon, Facebook, Twitter und die Geheimdienste anhäufen, sind nicht mehr zu kontrollieren.

Das ist die gravierende Schattenseite der schönen neuen (Digital-)Welt. Doch es gibt noch eine weitere, die dich und jeden anderen User im Netz betrifft.

Wo Digital Detox angebracht wäre

Es ist nicht die Lifestyle-Entgiftung, die vorrangig drängt. Auch zu Beginn des Jahres 2016 wird das Internet mit Content überschwemmt. Jeden Tag werden unzählige Blogbeiträge, Podcasts, Videos usw. veröffentlicht. Wir können daraus nicht einmal einen Bruchteil konsumieren. Was auf den ersten Blick wie eine bereichernde Vielfalt wirkt, ist in Wahrheit ein massives Problem. Denn längst nicht alle Inhalte sind wirklich wertig. Oder um es ganz direkt zu sagen: Vieles ist Mist und lenkt uns ab. Indem unser Auge an heischenden Überschriften hängen bleibt zum Beispiel. Oder die Beiträge nicht sauber recherchiert wurden. Oder wir es mit einem reinen Werbetext zu tun haben, der sich als Blogbeitrag tarnt. Oder, oder, oder … „Hauptsache Aufmerksamkeit!“ schreit das Netz.

Statt also einer digitalen Pseudo-Entgiftung wäre eine Entrümpelung, eine Verschlankung des Internets sinnvoll. Da kann jeder bei sich selbst anfangen: unnütze Apps vom Handy schmeißen (oder wenigstens deaktivieren), den zuckersüßen Cat-Content bei Facebook einfach mal ignorieren und sich dem Offline-Leben widmen. Weitere nützliche Tipps gibt es bei Consumer Affairs.

Außerdem empfehlenswert: mehr Sensibilität im Umgang mit den eigenen Daten pflegen und über den Tellerrand schauen. Denn ist es nicht merkwürdig, dass seit Jahren Alternativen zu Facebook existieren, die wesentlich sicherer und transparenter sind? Bei Diaspora etwa bleiben sämtliche Daten auf dem eigenen PC. Fotos, Texte, Kommentare: Alles wird auf der heimischen Festplatte gespeichert (und nur da!). Warum werden solche Angebote immer noch nicht genutzt? Man muss in Anbetracht dieser brachliegenden Möglichkeiten beinahe schon von Netzfaulheit sprechen.

Auch in Hinblick auf die Erwartungshaltung haben wir einiges vor uns, wenn wir eine gesunde Einstellung zur digitalen Welt finden wollen. Einer Umfrage von Bitkom zufolge nutzen 71 Prozent der Arbeitnehmer privat angeschaffte Computer und Handys für die tägliche Arbeit. Und mal ehrlich: Welche Reaktionszeit erwartest du, wenn du eine Mail verschickst? Früher waren es Tage, heute lautet die Formel: „So schnell wie möglich.“

Und wir geben freiwillig unser OK dafür: Mehr als 60 Prozent der Deutschen nehmen ihr Smartphone mit ins Bett. Und sie würden es im Brandfall eher retten als die Katze – wenn das der Stubentiger wüsste! Dabei empfehlen Experten, sich mindestens eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen von Bildschirmen fernzuhalten (das steht mit Sicherheit auch im Ratgeber für Schlafhygiene). Tatsache ist, dass auch das Internet süchtig machen kann. Das Fischen nach Likes auf Facebook ist da nur eine Ausprägung dieser Sucht. In schwerwiegenden Fällen, die immerhin rund 500.000 Deutsche betreffen, ist Digital Detox natürlich absolut sinnvoll. Diese sollte dann aber therapeutisch und dauerhaft erfolgen, nicht in pädagogisch fragwürdigen Camps.

Der große Kehraus

Machen wir uns keine Illusionen: Das Netz wird immer ein chaotischer Ort bleiben, vollgestopft mit mal mehr, mal weniger guten Inhalten. Niemand hat die Kontrolle darüber, und das ist gut so: Denn wo Kontrolle ist, da ist die Gefahr der Zensur vorhanden. Trotzdem braucht es ein Prinzip, einen Filter, der die Spreu vom Weizen trennt.

Ähnlich wie Adam Smiths unsichtbare Hand funktioniert dieser Kehricht bereits ansatzweise: Uninteressante bzw. lieblos aufbereitete Inhalte werden durch Nichtbeachtung abgestraft. Wer hingegen konsequent und beständig hochwertigen Content publiziert, wird im besten Fall durch die Community belohnt.

Eine Verfeinerung dieser „Abstimmung mit der Tastatur“ führt uns zurück zur Grundidee der Netzneutralität: Die Mehrheit entscheidet über die Inhalte. So und nicht anders muss das Internet funktionieren – denn alles andere käme einer Beschränkung gleich. Einen interessanten Ansatz zum ganz persönlichen Digital Detox liefert Thomas Pleil. Für ihn ist die Smartwatch in Kombination mit klassischem Mailing die Lösung, um nicht im Datenwust zu ersticken.

Momentan aber bekommen die Lautesten noch die größte Aufmerksamkeit. Das Netz fühlt sich daher an wie eine Schulklasse außer Rand und Band. Jeder schreit herum, und am Ende versteht keiner mehr irgendwen. Da tut es gut, den Schreihälsen den Ton abzudrehen.

Fazit

Aufmerksamkeit ist die Währung des Netzes. Und diese Währung droht, immer mehr an Wert zu verlieren. Digital Detox sollte daher auf zwei Ebenen stattfinden: einmal auf der persönlichen, durch kritische Prüfung des eigenen Nutzungsverhaltens, und zum anderen durch die Unterstützung wertiger Inhalte – sei es in Form von Weiterempfehlungen oder Kommentaren. Ein solch holistischer Ansatz würde tatsächlich zu einer Entgiftung und Entrümpelung des digitalen Lebens aller User führen.

Und was tust du für deine digitale Entgiftung? Oder hast du alles bestens im Griff …?
Digital Detox – brauchen wir eine digitale Entgiftung?
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Benjamin Brückner

Benjamin Brückner

Benjamin Brückner ist Journalist, Blogger und Gründer der Online-Plattform Freelance Start. Nach mehrjährigen Tätigkeiten in Hörfunk- und Fernsehredaktionen veröffentlichte er zwei Bücher und arbeitete unter anderem als Redakteur und Newsletter-Teamleiter bei Zielbar.

9 Reaktionen zu “Digital Detox – brauchen wir eine digitale Entgiftung?”

  1. Melanie Tamble

    Toller Beitrag, Benjamin. Auch wenn „Detox“ nun auch wieder eines dieser Buzzwords ist, das jetzt überall aufpoppt. Der Kern der Botschaft ist sicherlich richtig. Alles, was zu viel oder zu wenig ist, tut nicht gut, egal ob bei der Ernährung oder beim Medienkonsum. Die richtige Balance ist wichtig.

    Meine persönliche digitale Entgiftung besteht darin, zwischendurch immer mal ein „echtes Buch“ zu lesen, eins so richtig mit Blättern und zum Blättern. Mit einem spannenden Krimi und einer Tasse Tee auf der Couch, so wie früher – offline – Das ist für mich Entspannung pur.

    Antworten
    1. Benjamin Brückner
      Benjamin Brückner

      Hallo Melanie,

      danke dir. Genau so mache ich es auch – es geht nichts über ein Buch, um zu entspannen und zur gleichen Zeit seinen Geist zu trainieren. Wenn ich Bücher lese, merke ich regelrecht, dass es „Futter für das Gehirn“ ist. Ja, „Detox“ ist ein Modewort und drumherum haben sich viele Geschäftsmodelle gebildet. Die Frage ist allerdings, ob diese wirklich sinnvoll sind. Letztendlich muss ja jeder selbst entscheiden, wie viel Digitales er in sein Leben lässt. Ich für meinen Teil handhabe es mit der Maxime „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ und fahre gut damit.

      Viele Grüße
      Benjamin

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  2. Tina Gallinaro
    Tina Gallinaro

    Hallo Benjamin, ich „entgifte“ mich mittlerweile regelmässig jedes Wochenende und ziehe somit einfach mal den Stecker! ;-)
    Dann bin ich im realen Leben unterwegs und tauche oft in die Welt der Papierbücher ab
    Ich finde, man muss nicht ständig und überall erreichbar sein und kleinere Auszeiten sollte man sich regelmässig nehmen.
    LG Tina

    Antworten
    1. Benjamin Brückner
      Benjamin Brückner

      Hallo Tina,

      das nenne ich konsequent! Auch am Wochenende bin ich zeitweise online, dann aber mehr aus Spaß und zum Lesen tiefgründiger Beiträge, die ich mir die Woche über in meinem Feed vorgemerkt habe. Auch finde ich es toll, dann in neuen Blogs zu stöbern oder ganz in Ruhe an meiner eigenen Webpräsenz zu arbeiten.

      Viele Grüße
      Benjamin

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  3. Stephan 黒 [Portait-Foto-Kunst]

    Hi Benjamin,

    da kann ich nur zustimmen: „Hautpsäche Aufmerksamkeit“ ist der neue
    Zeitgeist der Blogosphäre und vieler Contentproduzenten.

    Das die Lautetsten am meisten Aufmerksamkeit bekommen
    fällt mir vor allem auf der Platform YouTube auf.
    In der Blogosphäre sehe ich das Problem als nicht als so tragisch an.
    Dass nicht alles im Netz „hochwertig“ ist quält den Internet-Nutzer
    seit beginn des www.
    Eine Lösung wurde z.B. von Google geliefert
    Durch das Ranking der Seiten erfüllt der Webdienst eine Filterfunktion.
    Den größte Quatsch bekommen wir also meistens gar nicht mit!
    (außer wir suchen gezielt danach ;)

    Contentqualität in Textform wird sich sicherlich weiterhin auszahlen!

    Zum Thema Facebook-Clone:
    Facebook ist der Marktfürher.
    Konkurrenten haben es da schwer, weil sie nicht von so vielen Menschen genutzt werden. Datenschutz und Datensicherheit sind bei er Masse der Menschen nicht unbedingt das Argument um umzusteigen.
    Ich selber nutze auch Ello, aber nach meinem Eindruck stehe ich damit recht alleine da…

    Ob Kurse im Digitalen-Detox die Lösung sind bezweifele ich, wohl eher
    eine lustige „Firmenausflugs-Alternative“ für IT-Firmen.

    Schöner Artikel!

    Beste Grüße
    Stephan 黒

    Antworten
    1. Benjamin Brückner
      Benjamin Brückner

      Hallo Stephan,

      das sind gute Ergänzungen, danke dir. Das ist schon komisch, oder? Das Thema Datenschutz ist spätestens seit der NSA-Affäre 2013 in aller Munde, viele Bürger regen sich darüber (zu Recht) auf. Und trotzdem, die Skandale genügten nicht, um von Datenkraken hin zu User-freundlicheren Netzwerken zu wechseln.

      Bei Facebook ist es die schiere Masse und daher ist ein Wechsel wenig attraktiv – denn meine Freunde bleiben ja vorerst im alten Netzwerk. Allerdings sind solche „Massenabwanderungen“ nicht ausgeschlossen, wie das Beispiel von StudiVZ zeigt.

      Ein großes Problem mit dem Datenschutz ist, glaube ich, dass die Leute die unmittelbaren Konsequenzen nicht merken. Man nutzt den Rechner bzw. das Smartphone und spürt keine direkten Auswirkungen.

      Ähnliches habe ich mit „Threema“ durch – obwohl die App super ist und die Registrierung kinderleicht, das alles zugleich bei hohem Datenschutzniveau, bleiben die meisten bei WhatsApp – mit allen damit verbundenen Nachteilen.

      Es ist gut, dass Google solche Filter hat. Wenn ich mich da an gar nicht so lange zurückliegende Zeiten erinnere, in denen mit exzessivem Keyword-Dropping versucht wurde, zu ranken, ist eine intelligente Aussortierung schrottiger ‚Beiträge‘ genau der richtige Weg.

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  4. […] Digital Detox mag beim Einzelnen Wirkung zeigen, doch es verändert nicht die besitzergreifenden Strukturen der Systeme und Netzwerke, die uns tagtäglich umgeben. Vernetzung ist nicht mehr zu einer freien Wahl, sondern zu einer Notwendigkeit geworden. In einem Beitrag bei Zielbar habe ich daher den digitalen Kehraus vorgeschlagen. […]

  5. Thomas Schuster
    Thomas Schuster

    Hallo Benjamin,

    schöner Beitrag – ich glaube, nicht nur digital gilt: „Die Dosis macht das Gift.“ Ob es unbedingt Auszeiten sein müssen, muss jeder mit sich selbst ausmachen. Allerdings sollte man in jeder Hinsicht aufpassen, dass man nicht zum zwanghaften Homo Digitalis wird.
    LG
    Thomas

    Antworten
    1. Benjamin Brückner
      Benjamin Brückner

      Hallo Thomas,

      schön auf den Punkt gebracht, danke für deinen Kommentar. „Die Mischung macht’s“, die „goldene Mitte“ oder das von dir gebrachte Zitat – es dreht sich immer darum, eine Ausgeglichenheit zu behalten.

      LG
      Benjamin

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